Galerie Gardy Wiechern 2007

Rede von Thomas Sello zu Arbeiten von Anja Witt, 2007

“ Forschung und Malerei sind vielleicht in den Methoden gegensätzlich, aber der Antrieb ist der gleiche: erklären, finden, neu entdecken.“ Diesen Gedanken kann man bei Künstlern nachvollziehen, die sich als Feldforscher und Spurensucher seit ca 30 Jahren in der Kunstszene tummeln, die in detektivischer Kleinarbeit und in kreativer Phantasie durch Grabungen und Fundstücke eine künstlerische Archäologie betreiben, um vergessene, verlorene oder übersehene Geschichten und Geschichte bis zur Gegenwart aufzuspüren. Doch der zitierte Satz stammt von Anja Witt, die nicht, wie die „Feldforscher“ , ihren Weg von der Kunst in Richtung Wissenschaft lenkte. Sondern bei ihr war es die entgegengesetzte Richtung.

Sie entschied sich nach dem Abitur für das Studium der Ozeanographie ( „obwohl ich schon immer gezeichnet hatte“) und war nach dem Diplom Doktorandin am Hamburger Institut für Meereskunde, bevor sie 1993 den Sprung von der Naturwissenschaft zur freien Kunst wagte – als Autodidaktin, dazu Mutter und schließlich Leiterin einer Malschule in Aumühle.

Wer hat sich bei der leuchtend roten Einladungskarte mit dem wilden Pinselduktus und den spontanen Übermalungen gedacht, dass es das Werk einer Naturwissenschaftlerin sei. „Charybdis“ heißt das Bild auf der Einladungskarte. Ist es ein Kunst- oder Phantasiewort oder einfach nur ein Ohrenschmaus? Keineswegs. Bereits Homer gab der Charybdis in der Odyssee vor rund 3000 Jahren einen Auftritt und auch in der Sage der Argonauten erscheint sie, ein krasses Meeresungeheuer, das in der Straße von Messina gemeinsam mit ihrer Kollegin Skylla ihr Unwesen trieb. Sie sog dreimal am Tag das Meerwasser ein, um es danach brüllend wieder auszustoßen. Schiffe, die in den Sog gerieten, waren verloren. Sie wird bereits auf schwarzfigurigen Vasen mehr als 500 Jahre vor Christus als eine Art Mund im Wasser dargestellt, manchmal auch nur als gigantischer Wassersog. Die Charybdis war eine Tochter von Poseidon und Gaia und war für die Überflutung des Landes zuständig. Zeus verwandelte sie in ein Monster. Und zwischen Homer und Anja Witt steht auch noch Friedrich Schillers „Taucher“:

Charybdis, 130 x 150 cm, Acryl auf Lwd.

„Der König spricht es und wirft in die Höh

der Klippe, die schroff und steil

hinaushängt in die unendliche See,

den Becher in der Charybde Geheul.

Wer ist der Beherzte, ich frage wieder,

zu tauchen in diese Tiefe nieder?“

Wir sehen, der Wechsel von der Wissenschaftlerin zur Künstlerin ist ein Rollentausch. Früher musste Anja Witt die Ursachen und Wirkungen der Natur ergründen, nun ist sie selbst vor der Staffelei die Schöpferin von Urgewalten und lässt uns ergründen, wie sich das mit der Charybdis verhält. Sie selbst bekennt sich dabei zur künstlerischen Sicht, schlägt sich auf die Seite der poetischen Phantasie von Homer und Schiller, die sich nicht bei naturwissenschaftlichen Erklärungen für Strömungsgeschwindigkeiten (Einwirkungen von Mond und Wind und noch viel mehr) aufhalten, sondern mit dem Mythos die existenzielle Frage nach Schicksal und Sinn aufwerfen.

Warum die Farbe Rot? Bei der Erdgöttin könnte man es sich deuten, wenn man von Messina aus in Richtung Etna blickt oder mit noch besserem Fernglas zum Vulkan Stromboli. Dynamisch strudelnde Kraft lässt sich allenthalben auf der Gaia entdecken. Und das Rot der Charybdis? Ich denke, Anja Witt darf das Meer knallrot sehen, seit sie nicht mehr als Ozeanographin blickt – vielleicht hat sie ja auch deswegen aufgehört, weil sie vor lauter Naturwissenschaft nur noch rot sah, oder eben nur noch das Ungeheuer im Wasser, das, wie die Fische, natürlich die schönsten Farben haben sollte, um den Taucher in die Tiefe zu locken – oder aus anderen tiefsinnigen Gründen, wie wir sie z.B in dem Märchen vom Fischer und sine Frau erfahren, das der Maler der Romantik Philipp Otto Runge für die Brüder Grimm in Plattdeutsch aufgeschrieben hat. Wie im Märchen ist auch Anja Witts Meer farbig und aufgewühlt, ob aus Zorn über den Umgang des Menschen mit der Natur oder einfach nur, weil es so am schönsten ist – wobei Schönheit, Gefahr, Tod und Vergänglichkeit ja schon seit der Antike in Bildern und Tragödien zusammengehen.

saltfinger, 130 x 150 cm, Acryl auf Lwd.

Einige Bildtitel, sie sind alle auf Englisch, ein Relikt aus der naturwissenschaftlichen Forschung,in der die Fachbegriffe englisch sind, lassen den zeitkritischen Blick vermuten:“stranded“ (gestrandet), „discard“ (weggeworfen), „trap“ (Falle) und „climatic change“ (Klimaveränderung). Das zuletzt genannte große Bild aus dem Jahre 2006 unterscheidet sich erst bei näherem Blick von den anderen Kompositionen, die aus reiner Malerei bestehen.

Hier hat die Malerin in Collage-Technik eine Schwarz/Weiß Kopie eines Holländers des 17.Jahrhunderts, ich vermute, es sind Schlittschuhläufer von Avercamp, eingefügt.

Mancher von uns kann sich gewiss noch daran erinnern, wie wir im Winter wochenlang auf Seen und auf der Alster Schlittschuh gelaufen sind. Vor 350 Jahren ging das sogar in Holland. Dagegen mögen uns unsere Kinder solche Geschichten kaum noch glauben, wie sich unsere Urenkel das Skifahren auf natürlichen Bergen vielleicht nicht mehr vorstellen können – falls man sich nicht einmal auf das Ziel einer Begrenzung der Erderwärmung auf maximal 2 Grad bis zum Ende unseres Jahrhunderts wir einigen können.

Aber das Bild „climatic change“ macht auch die andere Seite der Malerin deutlich. Die Begeisterung für Farbe und Formen, die fast ansteckend auf uns überspringt. Fast über Kopf erscheint die Komposition mit festen dunklen Formen oben und dem leicht bewegten Blau am unteren Bildrand, gelegentlich tauchen kräftige Pinselspuren auf, häufig die Bewegung des horizontal geführten Spachtels. Dunkle Übermalungen werden dadurch aufgelockert, dass in die noch feuchte Farbe mit einem Spachtel gekratzt wurde. An einigen Partien sieht man den tropfenden Verlauf der verdünnten Farbe, obwohl die stets verwendete Acrylfarbe ja relativ schnell trocknet.

climatic change, 130 x 150 cm, Acryl auf Lwd.

Paul Theodor Hoffmann (P.T.H.) schrieb nach einem Interview mit der Künstlerin im Hamburger Abendblatt (im Oktober 2000) „Wie malt Anja Witt ? Sie beginnt ihre Bilder spontan mit einer „groben Vorstellung im Kopf“, aber aus Erfahrung und vielen Skizzenbüchern gespeist. Der Entwurf wir ddirekt auf die Leinwand gesetzt. Der Malprozess vollzieht sich absolut konzentriert, in der ersten Phase „mit Mut und Schnelligkeit“.

Dieser Text entstand ziemlich am Anfang der Künstlerkarriere von Anja Witt, die in den vergangenen sechs Jahren über zwanzig Ausstellungen umfasste. Sie hatte damals eine Ausstellung auf der „Kunsttreppe“, nachdem sie von P.T.H.(Feuilleton.Redakteur Gründer der Einrichtung des Hamburger Abendblatts) entdeckt worden war. Und ineinem Text aus den letzten Jahren formuliert es die Künstlerin so: “ Ist ein Bild fertig und steht plötzlich als selbständiges Ganzes, bin ich euphorisch. Ist das Bild nach einer Woche Karenzzeit im Atelier immer noch gut, bin ich zufrieden. Es kann passieren, dass statt des geplanten Bildes ein ganz anderes Bild entstanden ist, weil es eine verlockende Chance gab oder weil noch so schöne rote Farbe da war, warum nicht? Malerei ist lebendig, es ist Sinnlichkeit und Auseinandersetzung und Freiheit zugleich.“

Vor ein paar Wochen hing ein Bild von Anja Witt in der Ausstellung der GEDOK, die das Motto Schwarz/Weiß hatte. Es war eine kosmische Landschaft und kaum zu glauben: so gut wie ohne bunte, leuchtende Farben. Doch hier in Blankenese treffen sich in der Farbe Rot zwei Seelen, die Galeristin und die Malerin. Und so ist diese Ausstellung durch die gemeinsame Bildauswahl zum Triumph der Farben geworden, besonders der Farbe Rot, die trotz mancher gegenständlicher Titel und gelegentlicher landschaftlicher Anklänge eine in sich geschlossene Seite der Künstlerin zeigen, bei der die Lust auf freie Farben und Formen sich fast ganz von den Gegenständen gelöst hat.

Ich gratuliere zu dieser schönen Werkgruppe und wünsche der Ausstellung großen Erfolg.

Thomas Sello